Foto © Carsten Gliese

EINGEDECKT

Candia Neumann im Atelierhaus alte Schule Essen

Candia Neumanns installatives Werk "Tafel und Asche" inszeniert einen Raum und stellt uns vor Rätsel.
Der Raum ist ein ehemaliges Klassenzimmer im Atelierhaus Alte Schule in Essen-Steele, einem Gebäude aus der Gründerzeit. Es ist ein hoher Raum mit drei großen Fenstern an der einen Seite und zwei seitlichen Türen an der gegenüberliegenden Wand, eine davon zugebrettert und weiß gestrichen.

Candia Neumann hat die Fenster scheinbar nachlässig mit ockerfarbigem Organzastoff verhängt, der weit auf den schadhaften Parkettboden fällt und sich dort aufbauscht. Er hat bräunliche Flecken, ist schadhaft und löchrig.
Die Wände hat sie in regelmäßigen Abständen von oben bis unten mit schmalen weißen Streifen beklebt; schaut man sie näher an, sieht man, dass ihre Oberfläche aus Zucker besteht.

Inmitten des Raumes befindet sich ein großer Tisch im Stile des "Gelsenkirchener Barocks", über dem ein Kronleuchter mit kerzenartigen Glühlampen hängt. Um ihn herum vier Stühle im selben Stil, sie wirken wie weg geschoben oder zur Seite gerückt, einer von ihnen ist umgestürzt. Der Tisch bildet eine schiefe Ebene, an einem Ende ist er angehoben, dort scheint er zu schweben, denn die beiden Beine berühren den Boden nicht. Eine dicke Mauer aus unregelmäßig geschichteten Feldbrandziegeln teilt ihn in zwei ungleiche Hälften. Es wirkt, als stecke er in der Mauer fest. Eine sorglos drapierte weiße Tischdecke und, im rechten Winkel dazu, ein schwarzes Tuch, bedecken seinen größeren Teil. Das Tuch fällt bis auf den Boden. Der Tisch ist eingedeckt mit alt-modischen Gläsern, Tassen, Tellern, Besteck. Dazu kommen Torten, Kuchen, Gebäck, Pralinen, Petit Fours: all diese Süßigkeiten zeigen sich in einer eigenartigen Unfarbigkeit: grau-schwarz, unregelmäßig mal heller, mal dunkler, dabei körnig in ihrer Struktur. Sie wirken morbide und irritieren, weil sie zwar in ihren Formen, aber nicht in Farbe und Konsistenz dem Bild von Süßwaren entsprechen.

Unschwer ist das alles als eine festliche Kaffeetafel zu entschlüsseln, nur drängt sich unwillkürlich die Frage auf: was denn bloß für eine? Allmählich erst beginnen wir, die Rätsel aufzunehmen, die sie birgt. Nach und nach entdecken wir viele seltsame Details: unter dem Tisch versteckt, bewegt sich in unregelmäßigen Zeitintervallen ein Vogelflügel langsam auf und ab. Er wird durch einen Elektromotor in Gang gesetzt, der sich in einer Pappschachtel neben dem Tisch befindet. Deutlich auszumachen sind die Stromkabel, an die er angeschlossen ist. Es ist eine durchschaubare Konstruktion, gleichwohl wirkt der Flügel in diesem Kontext geheimnisvoll. In die Sitzfläche eines Stuhles ist eine Vogelfeder gesteckt. Sie wird durch einen kleinen Elektromotor darunter in Vibration versetzt. Wessen Hintern soll sie kitzeln? Irgendwo zwischen all den Speisen flattert ein verirrter lebendiger Schmetterling. Zufall oder Absicht? Dazwischen liegen tote Fliegen, mit dünnen Fäden an kleine Bleikugeln gefesselt. Auf dem Boden befinden sich drei helle, semitransparente, handballgroße Kugeln, die kleine Aschebrocken in sich bergen. Sie sind aus Zucker geblasen.

Candia Neumann hat hier eine fast verwirrende Vielfalt von Dingen zusammengestellt, die dennoch in ihrer Gesamtheit ein Bild von Homogenität und Geschlossenheit vermittelt. Entfernen wir uns als Betrachtende von den Details und suchen einen Standpunkt, der den ganzen Raum einsehbar macht, ziehen wir damit das vielteilige Ensemble zu einer Einheit zusammen und seine Teilstücke rutschen an die Peripherie unseres Sehens.
Aber ist die Bezeichnung "Ensemble" überhaupt zutreffend? Wäre "Installation" nicht passender? Oder "Inszenierung"? Vielleicht auch "Environment"?
Die Begriffe zielen vorbei. Die Arbeit hat etwas von alledem und auch wieder nicht. Sie verweigert sich der Kategorisierung.


Zweifellos befindet sich der Betrachter in der "Anmutung" eines Bühnenraumes. Die schwer zu beschreibende Wirkung des Werkes hat mit den unterschiedlichen Wahrnehmungskanälen zu tun, die durch diese Situation aktiviert werden. Dabei ist die visuelle Wahrnehmung unzweifelhaft die herausragende, aber auch andere werden deutlich und nachhaltig stimuliert.

Über dem Raum liegt ein Schweigen, eine Stille, die nur manchmal vom leisen Surren der Elektromotoren durchbrochen wird. Ein schwacher Geruch nach altem Holz liegt in der Luft, eine Lilie auf dem Stuhl tut mit ihrem süßlichen Duft das Ihre hinzu. Man entwickelt einen scheuen Impuls, die Gegenstände auch berühren zu wollen, allein, ihre Fragilität verbietet es.

Der Betrachter selbst wird im Annäherungsprozess an dieses Werk zum Teil der "Inszenierung" - vielleicht formt sich in seinem Kopf auch eine Geschichte daraus. Seine Bewegung im Raum gestaltet das Werk mit. Nie erschließt es sich von einem einzigen bestimmten Standpunkt aus. Es müssen unterschiedliche Perspektiven eingenommen werden, damit es - man kann es so sagen - "entdeckt und erfahren" werden kann. Entfernte Sichten, nahe Sichten bis hin zu einer fast intimen Nähe zu den einzelnen Details: der Betrachter ist aufgefordert, herum zu gehen, inne zu halten, sich zu beugen, zu hocken, zu knien... Dabei muss er seine Blickachsen ständig verändern.


Das Material der "Süßspeisen" besteht aus einer Mischung von Zucker und Asche, Wasser und Kleber, die zusammengebunden und formbar gemacht wurde. Zucker: einstmals ein kostbares Luxusgut, aus dem im Barock auch pompöse Tafelaufsätze hergestellt wurden, um Reichtum und Wohlstand vorzuführen.
Asche: das Verbrannte und Vernichtete, ein Material, das anschaulich Zerstörung und Vergänglichkeit verdeutlicht.

Candia Neumanns festliche Kaffeetafel verweist unübersehbar und eindringlich auf Zeitlichkeit, Endlichkeit und Verfall, damit auch auf Leben und Tod.
Liegt hier möglicher Weise ein Schlüssel für die Deutung der rätselhaften Elemente in dieser Präsentation? Die Frage entzieht sich der Beantwortung, weil sich das Werk einer eindeutigen Interpretation verweigert. Es gibt keinen Schlüssel dazu, der es kurzerhand aufschließen ließe. So, wie der Betrachter viele Positionen einnehmen muss, um es als Gesamtes und in all seinen einzelnen Teilen wahrnehmen zu können, nimmt es selbst ebenso viele unterschiedliche und auch ambivalente Positionen ein. Es prägt einen Raum. Es nimmt Setzungen vor. Es besitzt skulpturale Eigenschaften. Es birgt Geschichten. Es besitzt absurde Anteile... Im Kern wirkt es ernst, durchdrungen von Trauer und Vergeblichkeit, doch gleichermaßen trägt es auch einen subtilen Humor als Konterbande mit sich.

Das macht seine Komplexität und Dichte aus. Grenzüberschreitungen prägen seine Existenz. Das geformte Material, die gefundenen Elemente, die Kombination verschiedener Arrangements, die Unterschiedlichkeit und Widersprüchlichkeit von Werkstoffen, das Geformte und das Gefundene, alles findet sich in einer Einheit zusammen. Das Ganze, so erweist es sich hier einmal mehr, geht deutlich über die Summe seiner Teile hinaus.
Candia Neumann spielt mit Rätseln und Bedeutungen, sie öffnet Assoziationsräume, dabei bleiben ihre Gegenstände aber immer real greifbar und identifizierbar. Beim Versuch einer Deutung jedoch ziehen sie sich eigentümlich in sich selbst zurück.

Fast mühelos gelingt dieser Arbeit das große Kunststück, die physische Erfahrbarkeit des Raumes mit den Imaginationen des Kopfes zu verbinden und den Betrachter in eine "Logik des Traumes" hineinzuziehen.


Ulrich Buse 2011

*Die Installation "Tafel und Asche" wurde im Arbeitsprozess in "eingedeckt" umbenannt.