Foto © Candia Neumann

MAUSEFALLEN

barm-herzig. Installation

Die Wände des Flurs in der ehemaligen Änderungsschneiderei sind ebenso trostlos kahl wie ihre Entsprechungen auf den acht Fotografien, die im engen Durchgang aufgehängt sind. Von der Decke herab hängt eine Wärmelampe, die den Raum kaum ausleuchtet und ihn in ein rötlich dämmerndes Licht taucht. Sie schwebt über einem Modell, das sich erst bei genauerem Hinsehen als Ort der Abbildungen auf den Fotografien zu erkennen gibt.

Die Fotografien zeigen den nackten Raum, ausgefüllt mit sechs Betten, die an Krankenhausbetten erinnern. In den Betten liegen eingefrorene Mäusebabies, wie sie in Zoohandlungen als Schlangenfutter verkauft werden. Die Perspektive in den Aufnahmen variiert nur sehr wenig, meist sind alle sechs Betten gleichzeitig in minimal veränderten Arrangements zu sehen, einmal eine Nahaufnahme mit drei, dann eine mit vier Betten. Allen Aufnahmen gemeinsam ist im Hintergrund ein dunkles Rechteck, das ich als Ein- oder Ausgang wahrnehme. Insgesamt strahlen der Raum und sein Inhalt eine kalte, latent unheimliche Atmosphäre aus.

Candia Neumann hat diese rätselhafte Installation im November 2009 im Rahmen einer Gemeinschaftsausstellung des „Kollegium kunst (off) raum“ erstmalig in den Räumen einer aufgegebenen Änderungsschneiderei in Essen präsentiert.


Statt mich auf ästhetische Vergleiche oder kunsthistorische Überlegungen zu barm-herzig einzulassen, konzentriere ich mich auf die in der Installation angebotenen erzählerischen Elemente. Ich stelle mir die Aufgabe, einzelne Spuren und Hinweise so zu einer Erzählhandlung zu verbinden, dass sie möglichst widerspruchsfrei zusammenpassen. Dabei bewege ich mich analog zum Vorgehen eines Kriminalisten. Ich betrachte die Teile der Installation als Beweisstücke. Aus ihnen rekonstruiere ich eine zurückliegende Handlung. Und ich stelle mir Fragen, die das Rätsel auf unterschiedlichen Ebenen beleuchten. Etwa: Was haben tote Mäusebabies in Betten zu suchen, die wie Krankenhausbetten für Menschen aussehen? Warum wird mir das Modell zusammen mit den Abbildungen präsentiert? Welchen Zusammenhang hat der Titel des Werks mit seinem Inhalt?


Tatsache ist: Im ausgestellten Modell sind die Mäuse nicht mehr vorhanden. Ihre Existenz ist nur noch auf den Fotos dokumentiert. Zwar bilden Fotografien naturgemäß allein Vergangenes ab, hier aber scheint mir der melancholische Zug, den ich auf den Fotografien entdecke, noch zusätzlich Repräsentanz eines Verlustes zu sein, der sich auf einer psychischen Bühne abspielt. Ohne sie darauf reduzieren zu wollen, wäre nach dieser Deutung die Installation selbst künstlerisch verarbeitetes Zeugnis von Verlust. Weil sich aber ein mit Schrecken besetztes Ereignis auf der psychischen Leinwand oft mit Verzeichnungen offenbart, als Deckerinnerung repräsentiert oder im Traum auftaucht, interpretiere ich die reduzierte Farbigkeit der Fotografien als Zeugnis unscharfer, blasser Erinnerung. Aus der Traumlogik übernehme ich den Gedanken, dass ein Träumer manchmal versucht, etwas nicht Verstandenes oder ungenau Gesehenes durch wiederholte Blicke festzuhalten. Ich interpretiere die acht ähnlichen Fotografien als fototechnische Repräsentanz dieser Blicke.


Hier meine konstruierte Erzählung als Projektion:

Mäuse stehen häufiger für Menschen Modell. Zum Beispiel im Tierversuch.

Sicher fühlen sich viele Kinder mit Tieren enger und gefühlsmäßig näher verbunden, als vernünftig gewordene Erwachsene. Tiere gehören deshalb für Kinder tendenziell derselben Sphäre an wie sie selbst. Sie könnten fürsorglich die toten, kalten Mäuse in die Betten gelegt haben, um die scheinbar schlafenden Tiere mit einer Wärmelampe wieder ins Leben zurückzuholen. Aus der Sicht von Erwachsenen könnte der Versuch spöttisch herzig genannt werden, aus der Sicht der Kinder aber wäre er barmherzig.


Die Installation barm-herzig teilt mit anderen Arbeiten von Candia Neumann außer ihrer Rätselhaftigkeit auch die Fülle an Anspielungen, die zu Spekulationen über die Bedeutung des Kunstwerks einlädt. Ein anderer Betrachter würde vielleicht keine Geschichte erzählen, oder wenn doch, dann eine andere.


Das Geheimnis von barm-herzig lässt sich durch keine Recodierung vollständig auflösen. Die Indizien im Kunstwerk sind wie Köder, welche die Phantasie anlocken, sie auf eine Spur setzen, bis der Verstand interveniert, um seinem Träger anzuzeigen, dass er sich in einer Mausefalle befindet.


Aber nicht einmal das ist sicher.

Michael Thamm 2011